Das Flüstern
Weißt du, was mir das Leben als Erstes beigebracht hat?
Nicht Mathe. Nicht Rechtschreibung. Sondern: „Halt den Mund und sei lieb.“
Glückwunsch – willkommen zur Einweisung ins System. Gratis Starterpaket: ein unsichtbarer Maulkorb, ein „Sei brav“-Sticker und die Nummer der Service-Hotline für Innere Zensur. (Spoiler: da geht nie jemand ran.)
Dieses Flüstern kam nicht aus dunklen Kellern. Es kam aus Wohnzimmern, Küchen und Klassenzimmern. Von Menschen, die uns liebten – oder zumindest dachten, sie müssten uns „in Form bringen“. Eltern. Großeltern. Erzieher. Lehrer. Die ganzen Erziehungs-Chefs mit Ernstblick und guten Absichten.
„Sitz gerade.“
„Lach nicht so laut.“
„Mädchen machen das nicht.“
„Was sollen die Leute denken?“
„Reiß dich zusammen.“
Klingt harmlos, oder? Fast fürsorglich. Und genau da beginnt das Gift. Denn dieses Flüstern wird zur Hintergrundmusik deiner Kindheit. Erst hörst du es, dann summst du mit, irgendwann glaubst du: Das bin ich.
Ist es nicht. Es ist nur ein Ohrwurm, den du nie bestellt hast.
Ich erinnere mich noch genau: Wenn ich bockig war, vielleicht drei oder vier Jahre alt, hat meine Oma mich ins Badezimmer gestellt. Tür zu. Und da blieb ich, bis ich wieder „lieb“ war. Zwischendurch kam sie rein und fragte: „Na, alles wieder gut?“ – und ich wusste: wenn ich brav nickte, durfte ich zurück ins Wohnzimmer.
Programm: Liebe gibt’s nur, wenn du funktionierst.
Ich war ein Kind, das ständig Mittelohrentzündung hatte. Höllenschmerzen. Und irgendwann lernte ich: Wenn du weinst, tut es nur noch mehr weh. Also hörte ich auf zu weinen. Bis heute gilt: Wenn du mich mal weinen siehst, glaub mir – dann tut es verdammt weh.
Programm: Gefühle zeigen macht alles schlimmer.
Meine Mutter war sehr jung – 16. Und ja, da gehört auch ein Vater dazu. Mein Vater, der erste grandiose Narzisst in meinem Leben. Er glänzte durch Abwesenheit. Und wenn er auftauchte, dann so selbstverliebt, dass kein Platz für andere blieb. Erst am Totenbett meiner Tante Rita 2022 habe ich ihn noch einmal gesehen, und das war fast wie ein Abschiedsgeschenk von ihr: Ich konnte ihn endlich mit nüchterner Distanz betrachten. Ein Gockel, unfähig, sich in andere hineinzuversetzen. Programm: Männer sind nicht da, wenn du sie brauchst.
Wenn ich nicht so war, wie meine Mutter es gern gehabt hätte – wenn ich aufmüpfig war, wenn ich wieder „Scheiße gebaut“ hatte – dann schwieg sie. Tagelang. Wochenlang. Keine Erklärung, keine Nähe, nur Schweigen. Für mich war das schlimmer als jedes Anschreien. Bis heute triggert es mich, wenn jemand mich ghostet. Für andere ist das vielleicht eine „Taktik“. Für mich ist es Folter. Weil in meinem System sofort der alte Alarm losgeht: „Du bist falsch. Du wirst nicht mehr geliebt.“
Programm: Liebe kann jederzeit entzogen werden.
Und in der Schule? Da war ich nie unauffällig. Im Gegenteil – genau das war ja das Problem. Ich fiel auf. Immer. Ich stellte Fragen, die keiner hören wollte. Ich lachte zu laut. Ich war zu direkt. Für Lehrer war das nicht süß oder charmant – es war störend. Ich habe gespürt, wie ihre Blicke schwer wurden, wenn ich den Mund aufmachte. Und jedes Mal, wenn ich zurechtgewiesen wurde, brannte sich ein neuer Satz in mein inneres Programm: „Du bist zu viel.“
Ich brauche ja immer irgendwelche Bilder und visuelle Vergleiche in meinem Kopf, wenn ich die Dinge verstehen muss. Ich nenne es das Eisberg-Modell mit Kaffeeduft. (Warum Eisberg, das erläutere ich in einem späteren Kapitel)
Oben, an der Oberfläche, hörst du die Worte: „Sitz still.“ „Sei brav.“
Unten drunter – unsichtbar, aber riesig – schwimmen die unausgesprochenen Botschaften:
„Sei so, dass ich mich nicht schämen muss.“
„Mach dich kleiner, damit ich mich größer fühle.“
„Passe dich an, damit wir dazugehören.“
„Zeig dich nicht zu sehr – Sichtbarkeit ist gefährlich.“
Oben hörst du Anweisung.
Unten schreibst du Glaubenssätze.
Und ja: genau aus diesem Unterteil des Eisbergs holt sich später jede Beziehung ihre kalten Füße.
Wenn du klein bist, unterschreibst du ohne Stift.
Einen unsichtbaren Vertrag: „Ich passe mich an, damit ihr mich liebt.“
Das macht jedes Kind. Weil Bindung wichtiger ist als Wahrheit.
Und irgendwann ertappst du dich dabei, wie du selbst flüsterst. Gegen dich:
„Sag lieber nichts.“
„Mach’s allen recht.“
„Sei kleiner. Sicher ist sicher.“
Gratulation, das System hat eine Filiale in deinem Kopf eröffnet. Öffnungszeiten: 24/7.
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